Meine Synästhesie

Schon als i-Dötzchen gab es erste Erlebnisse.
Als ich vom „roten“ Montag sprach, schaute man mich verdutzt an.
Oder ich die Wochentage wie an einem Bogen auf einer Kette kommunizierte.

Einer der zentralen Punkte ist, dass bei mir fast alles in einem 3-dimensionalen Raum seine „Stelle“ hat.

Ganz deutlich bei Zahlen. Meine „Lieblinge“!
Alle Zahlen haben eine Farbe. Eingendlich müsste ich sagen: Ziffern.
Die Zahlen von Null bis 9 haben eine bestimmte Farbe.
Die Zahlen von Null bis 9 haben eine bestimmte Größe.
Die Zahlen von Null bis 9 haben eine bestimmte Position in meinem Blickfeld.
Die Zahlen von Null bis 9 haben eine bestimmte 3-dimensionale Form.
Die Zahlen von Null bis 9 haben eine bestimmte Temperatur.
Die Zahlen von Null bis 9 haben eine bestimmte Farbe.

Die rote „Eins“ ist die größte Zahl. Sie ist Vorne (also nahe bei mir), unten links. Eine schwere, dicke Zahl aus massivem und sehr hartem Material. Unzerstörbar. Lauwarm. Selbstleuchtend.

Alle Zahlen mit mehreren Ziffern haben Grauwerte, von weiss bis schwarz. Eine Ausnahme ist die „10“. Sie ist oben rechts, verläß die unsichbare Grenze ins „Aussen“, verläuft farbig, das „Gesicht“ ist rot wie die Eins, und wird mit Gewalt an ihrem Rücken verzerrt. Ist dort hellgrau. Wie als wenn man an einem Gummibärchen zieht.

Die Zahlen ab 11 sind wie an einer Schnur befestigt. Tendentiell immer weiter entfernend, nach oben rechts verschwindend. Will ich z.B. die Zahl 1.000.000 denken oder gar anfassen, muss ich mich in diese Richung im Raum bewegen, denn relativ von der „Eins“ aus geshen ist sie so weit entfernt, dass ich sie nicht sehen kann. Jede Zahl hat aber einen leicht anderen Grauwert als die Nachbarn.

Meine Synästhesie reagiert auf Form und Farbe.

Weil ich immer komisch angesehen, oder als „Spinner“ bezeichnet wurde, habe ich gelernt, es zu verbergen. Nichts entsprechendes zu äußern. Aber das geht natürlich nicht spurlos an einem jungen Menschen vorbei. Ja, ich war anders. Aber es war immer ein „negatives“ Anderssein. Ich bin nicht Normal. Das war für mich klar. Ich war immer der in der letzten Reihe. Der „Stille“, der nur auf Ansprache antwortet.
Von Synästhesie hatte man nie etwas gewußt. Ich war um die 30, als ich davon das erste mal hörte. Ich war in Berlin mit dem Auto unterwegs. Ich weiß es als wenn es gestern war. Im Autoradio war ein Bericht über Synästhesie. Ich bin sofort in die nächste Parklücke und hörte fasziniert zu. Ich war also doch nicht „Verrückt!“. In den nächsten Tagen lief ich Bibliotheken ab. Aber selbst in der „Gedenkbibliothek“ habe ich nichts gefunden. Das Internet war damals zwar schon existent, aber gerade erst „geboren“. Also lebte ich weiter wie vorher. Aber vergessen hatte ich das Wort Synästhesie nie.

Erst 20 Jahre später fing ich damit an, das Thema wieder auszukramen. Es war als wenn ein neues Leben in mir beginnt. Es gab auf einmal Erklärungen. Berichte. Man sprach davon, es sei eine Anomalität, in der Medizin bis heute als eine „Krankheit“ eingestuft. So wie ADS, oder Autismus. Von da an begann ich langsam aber sicher zu verstehen, daß ich ein „Synnie“ bin. Und ich hörte auf dagegen anzukämpfen. Ich fing an, es bewußt in meinen Alltag zu integrieren. Es durfte sein!

Von wegen „Krankheit“. Ich nehme es heute als als einen zusätzlichen „Sinn“, als eine Eigenschaft von mir an. Wenn es ein „Gegenmittel“ geben würde, diese Pille würde ich niemals nehmen. Wenn man mir heute diese Eigenschaft nehmen würde, würde ich mich „kastriert“ fühlen. Ein wichtiger, essentieller Teil von mir, wäre verloren. Als wenn man mir einen Sinn genommen hätte. Ich empfinde mich heute als ein „reicherer“ Mensch, als Nicht-Synästhesisten.

Durch mein Anderssein war ich nie ein gemeiner Teil meiner sozialen Umgebung. Heute weiß ich folgendes. Und das ist mir erst seit ein paar Jahren bewußt. Ich bin ein Künstler darin, mich so zu bewegen, immer so zwischen anderen Menschen zu Laufen, durch meine Haltung und Mimik zu erreichen, dass man mich niemals „Berührt“ oder „Anfäßt“. Es hat eine Weile gedauert bis ich es begriff, das mit meiner Synästhesie zu verbinden. Wenn sich Menschen begegnern, schütteln sie sich die Hände, wenn sie nur „fremd“ sind. Oder man umarmt sich, wenn Freunde kommen. Oder verteilt „Bussis“. Aber nicht ich!
Japanische, chinesiche Öffi’s benutzen zu müssen, wäre hart für mich. Volle U-Bahnen und Busse sind nicht mein Ding. Nicht weil ich ein Sozialphobiker bin, nein weil dann kann ich es nicht mehr verhinden, von anderen berührt zu werden.
Ich bin nämlich auch ein Taktil/Gefühls-Synästhetiker. Und diese Art der Synästhesie reagiert bei mir äusserst heftig. Noch intensiver als bei meinen „Lieblingen“ den Zahlen. Was es auslöst? Das ist sehr sehr schwer zu beschreiben. Eigentlich ist das was in mir passiert nicht beschreibbar. Dafür gibt es kein Wort. Es kommt dann wie ein Sturm über mich. Für einen ganz kurzen Moment, verlasse ich die „Existenzebene“ und bin nicht mehr Herr meiner Selbst. Völlig abgelenkt von dem was ich gerade mache. Ich habe dann das Gefühl, dass eine unbekannte machtvolle Energie fliesst. Alle meine bekannten Synästhesie-Empfindungen, scheinen sich zu zu einem Super-Synnie-Gefühl zu bündeln. Wenn ich unerwartet berührt werde, reagiert sofort mein automatischer „Abwehrschild“ Denn niemand weiß ja was gerade bei mir passiert. Aber ich muss ja die äußere Situation weiterleben. Ich kann nicht sagen: „Wartet, jemand hat mich berührt, gib mir Zeit zum Verarbeiten.“ Also muss ich umgehend zurück zum Normal-Dasein. Das kostet mich extrem viel Kraft. Ich lerne im Moment aber, es zuzulassen, in bestimmten Situationen berührt zu werden. Manchmal traue ich mich auch selber zu agieren. Aber das ist alles sehr komplex für mich. Ich fange gerade erst an daran zu arbeiten, es für mich positiv zu nutzen. Ich denke das ist ein sehr langer und komplizierter Weg, der da vor mir liegt.

Nachtrag:
Das sind alles Beschreibungen von Vorgängen die es, in der allgemeine Sprache nicht gibt. Das was man Lesen kann, was bei Synästhetikern passiert, sind unvollständige Umschreibungen. Eine exakte Beschreibung ist oft ausserhalb unserer kommunikativen Formen die wir kennen. Wenn Raum und Zeit die vierte Dimension bedeutet, ist meine Synnie-Welt vielleicht die fünfte-Dimension. Auch wenn jeder Synnie „individuell“ ist, kann nur ein Synnie wirklich verstehen, was man fühlt, und sieht, und hört, und spürt, und riecht, ….